SOLWEIG DE BARRY
Katalogtext: Relikte des Temporären @ Goldrausch Künstlerinnenprojekte
2020 – Katalogtext
Relikte des Temporären
Wie transferiert sich die Flüchtigkeit eines gelebten Moments auf einen zweidimensionalen, statischen Bildträger? Welche Umrisse bleiben bestehen und welche verflüssigen sich durch den künstlerischen Prozess? Solweig de Barry modelliert das Temporäre eines Erlebnisses durch einen, für ihr Werk spezifischen, malerischen Abstraktionsprozess auf die Oberfläche ihrer Leinwände und Zeichenpapiere. Erinnerungen an alltägliche Erfahrungen und reale Situationen, die sich aus dem fotografischen Archiv der Künstlerin speisen, weichen innerhalb des Bildgrundes durch einen dynamischen Duktus auf und verflüchtigen sich. Oftmals bleiben konstruktive Elemente wie Striche und Muster als Skelette des Moments übrig, welche durch Farbflächen und gestische Pinsel- und Zeichenbewegungen auf weißem Grund vitalisiert werden. Das mittelgroße Bildformat ihrer Gemälde ermöglicht es der Künstlerin, während des Malaktes mit ihrem gesamten Körper in diesen ‚Abrieb‘ der Realität involviert zu sein. Zeichnerische Interventionen dienen ihr dabei als Vorstufe dieses Prozesses, während dem sie unterschiedliche Reduktionsstufen untersucht. Ähnlich einem klassischen Substraktionsverfahren in der Skulptur reduziert de Barry in einem gedanklichen Vorgang Schicht für Schicht der Ausgangsform – also in ihrem Fall der fotografischen Vorlage –, bis von dieser nur noch ein fragmentarischer Eindruck übrig bleibt. Doch was genau ist die abstrakte Essenz der Gegenwart, welche sich auf ihre Maluntergründe überträgt?
In Stadtwald (2019) wird der obere Bildrand von fünf breiten, schwärzlichen Farbbahnen belegt, die hinter einem grünlich-rosanen Geflecht am unteren Teil der Leinwand verschwinden. In geschwungenen, wilden Strichen wuchert das bunte Gebilde über die regelmäßigen Pinselsetzungen im Hintergrund hervor und umspielt dabei einen weißlichen Bereich. Die helle Farbfläche scheint als eine Art Lücke stehen geblieben zu sein, die während der malerischen Reduktion unbesetzt blieb. Die Abstraktion des fotografischen Ausgangsmotivs, das ein Kind vor einer Grünfläche in einer städtischen Umgebung zeigt, ist so weit vorangeschritten, dass nur noch gestisch gemalte Flächen, Linien und Farben des ursprünglichen Moments zurückbleiben. Die einzelnen Bildelemente formen dabei ein dreidimensional anmutendes neues Ensemble, das sich mit dem Bildträger zu verweben scheint.
Ähnliches passiert in der Arbeit Ohne Titel (2020), an dessen linkem Bildrand ein Getümmel aus olivgrünen, schnellen Pinselbewegungen von einer horizontalen, magentafarbenen Linienreihe überdeckt und unterbrochen wird. Im Zentrum der Leinwand befindet sich eine fragmentarische ovale Form, von der aus vier rote Linien in die oberen Bildecken ausstrahlen. Während in der fotografischen Vorlage noch eine Figur im Mittelpunkt der Aufnahme abgebildet ist, wird diese durch den malerischen Prozess reduziert. Klare Umrisse und Repräsentationen werden von unbestimmten, formlosen Farb- und Linienbündeln abgelöst.
In Ohne Titel (2019) hingegen überträgt die Künstlerin die ursprüngliche Fotografie direkter und figürlicher in das Medium der Malerei. Eine runde Struktur, die durch Streben gegliedert ist, lässt klare Assoziationen zu einem Rad zu; das sich darüber befindliche, diagonale Rohr ergänzt das Rad zu einer Kanone. Darauf platziert sind zwei Personen – eine braunhaarige, sich bückende, und eine kleinere Gestalt, die sich auf deren Rücken befindet. Im Hintergrund sieht man eine breite blaue Fläche. Sich abstrakt und ohne klare Umrisse horizontal über die Bildfläche ausbreitend, erinnert sie an eine weit entfernte Landschaft.
Solweig de Barry modelliert in ihren Arbeiten neue Welten. Mittels Substraktion zerlegt sie den Bildgegenstand sukzessive und verhandelt damit die Begrenzungen des ursprünglichen Bildmotivs und die ihm innewohnende Flüchtigkeit neu. Durch die radikale Reduktion von Perspektive, Bildaufbau und Realitätsnähe entwickelt die Künstlerin in der farbigen Flächigkeit der Formen und Linien so ein neues, immaterielles Abbild persönlicher Momente.
SOLWEIG DE BARRY
Katalogtext: Relikte des Temporären @ Goldrausch Künstlerinnenprojekte
2020 – Katalogtext
Relikte des Temporären
Wie transferiert sich die Flüchtigkeit eines gelebten Moments auf einen zweidimensionalen, statischen Bildträger? Welche Umrisse bleiben bestehen und welche verflüssigen sich durch den künstlerischen Prozess? Solweig de Barry modelliert das Temporäre eines Erlebnisses durch einen, für ihr Werk spezifischen, malerischen Abstraktionsprozess auf die Oberfläche ihrer Leinwände und Zeichenpapiere. Erinnerungen an alltägliche Erfahrungen und reale Situationen, die sich aus dem fotografischen Archiv der Künstlerin speisen, weichen innerhalb des Bildgrundes durch einen dynamischen Duktus auf und verflüchtigen sich. Oftmals bleiben konstruktive Elemente wie Striche und Muster als Skelette des Moments übrig, welche durch Farbflächen und gestische Pinsel- und Zeichenbewegungen auf weißem Grund vitalisiert werden. Das mittelgroße Bildformat ihrer Gemälde ermöglicht es der Künstlerin, während des Malaktes mit ihrem gesamten Körper in diesen ‚Abrieb‘ der Realität involviert zu sein. Zeichnerische Interventionen dienen ihr dabei als Vorstufe dieses Prozesses, während dem sie unterschiedliche Reduktionsstufen untersucht. Ähnlich einem klassischen Substraktionsverfahren in der Skulptur reduziert de Barry in einem gedanklichen Vorgang Schicht für Schicht der Ausgangsform – also in ihrem Fall der fotografischen Vorlage –, bis von dieser nur noch ein fragmentarischer Eindruck übrig bleibt. Doch was genau ist die abstrakte Essenz der Gegenwart, welche sich auf ihre Maluntergründe überträgt?
In Stadtwald (2019) wird der obere Bildrand von fünf breiten, schwärzlichen Farbbahnen belegt, die hinter einem grünlich-rosanen Geflecht am unteren Teil der Leinwand verschwinden. In geschwungenen, wilden Strichen wuchert das bunte Gebilde über die regelmäßigen Pinselsetzungen im Hintergrund hervor und umspielt dabei einen weißlichen Bereich. Die helle Farbfläche scheint als eine Art Lücke stehen geblieben zu sein, die während der malerischen Reduktion unbesetzt blieb. Die Abstraktion des fotografischen Ausgangsmotivs, das ein Kind vor einer Grünfläche in einer städtischen Umgebung zeigt, ist so weit vorangeschritten, dass nur noch gestisch gemalte Flächen, Linien und Farben des ursprünglichen Moments zurückbleiben. Die einzelnen Bildelemente formen dabei ein dreidimensional anmutendes neues Ensemble, das sich mit dem Bildträger zu verweben scheint.
Ähnliches passiert in der Arbeit Ohne Titel (2020), an dessen linkem Bildrand ein Getümmel aus olivgrünen, schnellen Pinselbewegungen von einer horizontalen, magentafarbenen Linienreihe überdeckt und unterbrochen wird. Im Zentrum der Leinwand befindet sich eine fragmentarische ovale Form, von der aus vier rote Linien in die oberen Bildecken ausstrahlen. Während in der fotografischen Vorlage noch eine Figur im Mittelpunkt der Aufnahme abgebildet ist, wird diese durch den malerischen Prozess reduziert. Klare Umrisse und Repräsentationen werden von unbestimmten, formlosen Farb- und Linienbündeln abgelöst.
In Ohne Titel (2019) hingegen überträgt die Künstlerin die ursprüngliche Fotografie direkter und figürlicher in das Medium der Malerei. Eine runde Struktur, die durch Streben gegliedert ist, lässt klare Assoziationen zu einem Rad zu; das sich darüber befindliche, diagonale Rohr ergänzt das Rad zu einer Kanone. Darauf platziert sind zwei Personen – eine braunhaarige, sich bückende, und eine kleinere Gestalt, die sich auf deren Rücken befindet. Im Hintergrund sieht man eine breite blaue Fläche. Sich abstrakt und ohne klare Umrisse horizontal über die Bildfläche ausbreitend, erinnert sie an eine weit entfernte Landschaft.
Solweig de Barry modelliert in ihren Arbeiten neue Welten. Mittels Substraktion zerlegt sie den Bildgegenstand sukzessive und verhandelt damit die Begrenzungen des ursprünglichen Bildmotivs und die ihm innewohnende Flüchtigkeit neu. Durch die radikale Reduktion von Perspektive, Bildaufbau und Realitätsnähe entwickelt die Künstlerin in der farbigen Flächigkeit der Formen und Linien so ein neues, immaterielles Abbild persönlicher Momente.